Die verlorenen Worte
wahnschaffen
Von mhd. wân und von mnd. wanschapen oder wantschapen, in der Bedeutung von „mißgestaltet, häßlich“ (Personen und Dinge), „ungeschaffen, ungestalt“, „unförmig, übel gebildet“, auch „verrückt“;
abgeleitet von wahn, Eigenschaftswort, ahd./asächs. wan, „mangelhaft“, „fehlend, leer, nichtig“, „unerfüllt, das volle Maß nicht haltend“, dazu im Sinne von „erfolglos, ermangelnd“, „gehaltlos“; so bedeutet beispielsweise wahnwitzig, Eigenschaftswort, folglich auf seiner eigentlichen Bedeutungsebene „ohne Verstand, bar jeder Vernunft“, „des Verstandes mangelnd oder beraubt“, „völlig unsinnig, verrückt“; auch als Weiterbildung von ahd. wanawizzi, mhd. wanwiz, wanwitze, „töricht, unsinnig“, „keinen Verstand habend, geistig schwach“ („der Witz“, Hauptwort, hier als „Verstand“);
dazu ebenso Wahn, der, Hauptwort, von mhd./mnd. wān, „Hoffnung, Erwartung“, Herausbildung im Sprachgebrauch als „(krankhafte) Einbildung, unbegründete Ansicht, Vorstellung“, auch als „unbegründete Hoffnung, Erwartung“, eigentlich lediglich „Gewünschtes, Ersehntes“; seit dem Mhd. im Gegensatz zu „Wissen und Wahrheit“ gestellt; dann Entwicklung im Fnhd. zu „willkürliche Vorstellung, die nicht der Wirklichkeit entspricht“ (16. Jh.), schließlich zu „Selbsttäuschung, fixe Idee“ als krankhafte Erscheinung (18. Jh.), wodurch die Nähe auch zu wähnen, Tätigkeitswort, ahd. wānen (8. Jh.), erkennbar wird, hier allerdings auch nur in der Bedeutung „glauben, meinen“, „vermuten, erwarten, hoffen“, noch ohne jegliche Bewertung einer vermeintlich vorliegenden „Verrücktheit“ oder „Geistesleere“;
siehe auch in Verbindung zu Wahnwitz, der, Hauptwort, „abwegiges, törichtes Verhalten“, und Wahnsinn, der, Hauptwort, die die Bedeutung von wahnschaffen beinhalten.
„So wantschapen sind die Menschen an manchen Orten.“
(Johann Ludwig Tieck (1773–1853), Dichter, Schriftsteller, Übersetzer, aus: „Der 15. November“, Novelle, 1827)
„die Prisken und die Casken
sind wesenlose masken;
die Casken und die Prisken
wahnschaffne basilisken.“
(August Wilhelm von Schlegel (1767–1845), Literaturhistoriker, aus: „Gedichte“, 1800)
„Man wird dabei an unsre Modejournale erinnert: die Männer wahnschaffen dünn geschnürt
und wie verwachsen, die Frauenwesen weit dekolletiert, mit Puffen und Falten am Kleide,
wobei das Kleid wie ein breiter Kegel nach unten sich weitet.“
(Theodor Birt (1852–1933), sprachwissenschaftlicher Autor und Altphilologe, aus: „Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung“, Leipzig, 1928)